Affektkrämpfe bei kleinen Kindern - was kann ich tun?
(El) Die Fachliteratur ist sich mittlerweile einig über die Ursachen und Auswirkungen sogenannter "Respiratorische Affektanfälle", auch als "Affektkrämpfe" bekannt. Es kursieren noch eine Vielzahl von Begrifflichkeiten um dieses Phänomen, z.B. "breath-holding spells, Schreikrämpfe, Wegbleiben, Wegschreien, Wutkrämpfe" und so weiter. Allen ist eines gemein – nämlich dass sich kleine Kinder bis zur Bewusstlosigkeit in Rage schreien können.
Laut Medizinduden sind Affektkrämpfe anfallsartige Bewußtsseinsstörungen - gelegentlich mit krampfartigen Erscheinungen - die durch unangenehme Reize (Affekte) ausgelöst werden. Solche Affekte sind sowohl körperliche Schmerzempfindungen jeder Art, als auch psychische Verletzungen, die Enttäuschung oder Wut bei den Kindern hervorrufen, etwa bei Verboten und Strafen oder als unbefriedigend erlebte Spielsituationen. Solche Reaktionen sind nahezu ausnahmslos erlernt: Kinder, die in den ersten Lebensmonaten die Erfahrung gemacht haben, dass Schreien durch Aufmerksamkeit belohnt wird, setzen dieses Muster automatisiert ein, wenn irgendwas ihr Wohlempfinden stört. Je nach "Abnutzungsgrad" dieser Schreimuster kommt es zwangsläufig zu einem Steigerungseffekt – ein unheilvoller Kreislauf beginnt, bis zum Maximum dessen, was Kinder körperlich vermögen. Das Endergebnis ist der totale Krampf bis zur Bewusstlosigkeit.
Welche Kinder haben Affektkrämpfe?
Affektkrämpfe kommen bei Kindern im Alter von 6 Monaten bis 4 Jahren vor, bevorzugt im 2. und 3. Lebensjahr, selten schon in den ersten Lebensmonaten oder noch im Schulalter. Sie sind häufig! Etwa 5 Prozent aller Kinder erleiden diese Anfälle, manche nur wenige im Jahr, andere mehrere am Tag.
Besonders die lebhaften, empfindsamen, vermehrt reizbaren Kleinkinder, Jungen mehr als Mädchen, neigen zu Affektkrämpfen. Oft besteht eine familiäre Veranlagung zu übermäßiger Erregbarkeit, zu Jähzorn und Angstzuständen. Auch bei überbetonter Emotionalität in der familiären Atmosphäre werden vermehrt respiratorische Affektanfälle beobachtet. Bei etwa einem Viertel der betroffenen Kinder kommen Affektkrämpfe auch bei Geschwistern vor oder wurden in der Kindheit bei den Eltern gesehen.
Wie sehen Affektkrämpfe aus?
Den Beginn des Anfalls erkennt man oft schon am erschreckten oder wütenden Gesichtsausdruck des Kindes. Es folgt meist ein sich steigerndes Schreien über einige Sekunden, das dann plötzlich abbricht. Bei manchen Kindern bleibt das Schreien auch aus oder es kommt nur zu einem Ansatz zum Schreien. Nach einer Ausatmung hält das Kind den Atem an, versteift sich meist anfangs, wird blaß, die Lippen oft bläulich ("zyanotisch"), dann bewußtlos und fällt schlaff hin. Nach einigen Sekunden bis Minuten kommt es wieder zu sich, ist dann meist erschöpft, gelegentlich schlafbedürftig. Bei längerer und tieferer Bewußtlosigkeit können auch Verkrampfungen - meist kurze tonische Streckkrämpfe, gelegentlich auch Zuckungen (Kloni) - vorkommen.
Außer diesen oft sehr dramatisch verlaufenden "blauen" Affektkrämpfen kommen auch "blasse" Affektanfälle ("Reflexsynkopen") vor, veranlaßt durch Schmerzen etwa bei einem Stoß des Kopfes gegen eine Tischkante, oder auch nur einen Schreck. Dabei bleibt das Schreien meist aus, oder es kommt nur zu einem kurzen Aufschrei, und die Kinder sacken blaß und bewußtlos auf den Boden.
Wie kommt es zu diesen Anfällen?
Die abnorme Erregung des Kindes bewirkt einen krampfartigen Verschluß der Stimmritze mit Atemstillstand. Schon dadurch kommt es zu einem Sauerstoffmangel, erkennbar an der Blausucht ("Cyanose"). Die Erregung bewirkt außerdem - über das "vegetative" Nervensystem - eine Kreislaufstörung durch Abfall des Blutdrucks und eine Verlangsamung des Herzschlags. Alles zusammen verursacht über eine verminderte Sauerstoffversorgung des Gehirns die Bewußtlosigkeit. Die gelegentlich auftretenden Streckkrämpfe, verbunden oft auch mit einigen Zuckungen (Kloni), sind durch den Sauerstoffmangel bedingt ("anoxische" Krämpfe) und keine epileptischen Anfälle.
Sind die Anfälle gefährlich oder schädlich für das Kind?
Der oft dramatisch wirkende Ablauf kann besonders beim ersten Mal die Eltern zutiefst ängstigen. Glücklicherweise kann der Arzt sie weitgehend beruhigen und sagen, daß auch bei häufigerem Auftreten und längerer Dauer der Anfälle Todesfälle oder erhebliche Folgeschäden nicht beobachtet werden.
"Gefährlich" ist allerdings der psychische Effekt, denn die zwangsläufig erforderliche Zuwendung der Eltern zu ihrem krampfenden Kind verstärkt in der Musterbewertung die Erfahrung, dass man "das Schreien nur halt immer mehr steigern muss", um Zuwendung zu erhalten. Die Folge ist, dass solche Kinder später unbewusst zu immer brachialeren Mitteln greifen, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Eine in der Fachwelt vieldiskutierte Theorie ist, das Patienten mit dem Borderline-Syndrom (vereinfacht: "zwanghaftes wegstossen oder verletzen dessen, was man eigentlich liebt") ihre Grundlagen schon früh in der Kindheit gelegt haben, indem sie Aufmerksamkeit von geliebten Personen, durch Agressionsverhalten zu provozieren suchten und damit erfolgreich waren.
Wie sicher ist die Diagnose?
Der typische Anfallsablauf läßt in der Regel an der Diagnose keinen Zweifel. Wird im Zweifelsfall noch ein Hirnstrombild (EEG) abgeleitet, findet man im Anfall keine krampftypischen Muster, sondern nur eine Verlangsamung. Eine epilepsietypische Aktivität zwischen den Anfällen - sie findet sich vereinzelt auch bei anfallsfreien gesunden Kindern - sollte immer durch einen erfahrenen Kinderepileptologen bewertet werden.
Kann man Affektkrämpfen vorbeugen?
Ja - auf jeden Fall! Bei bereits bestehender Krampfneigung sollten Angehörige und Betreuer darauf achten, welche Affekte die Anfälle verursachen. Gelegentliche Schmerzreize werden sie kaum verhindern können. Andere Auslöser, etwa abrupte Verweigerungen, brüske Gebote und Bestrafungen mit Worten oder Taten, lassen sich durch eine einfühlsame erzieherische Haltung vermeiden oder mildern. In affektgeladenen Situationen kann man oft entspannend reagieren durch Ablenkung oder liebevolle Zuwendung. Trotzdem - und das ist ganz wichtig - müssen natürlich unangemessenen Wünschen des Kindes konsequente Grenzen gesetzt werden. Die Beratung durch einen Kinderpsychotherapeuten kann eine Hilfe sein. Bei gehäuften Anfällen ist auch, wenn möglich, ein vorübergehender Mileuwechsel zu empfehlen, etwa ein Aufenthalt bei der Großmutter. Ausnahmsweise wird man auch die Gabe eines erregungsdämpfenden Mittels erwägen, wobei dies in den seltensten Fällen indiziert ist.
Wichtiger ist vielmehr ein pädagogisches Verhalten der Eltern! Schreiphasen dürfen keinesfalls zu dem vom Kind ersehnten Erfolg führen - auch negative Zuwendung (Schimpfen) ist Zuwendung. Am besten ist es, ganz ruhig und gelangweilt zu reagieren nach dem Motto "Du schreist - dann gehe ich jetzt. Wenn Du Dich beruhigt hast, komme ich wieder / kannst Du wieder aus Deinem Zimmer kommen". Und genauso wichtig ist es, ruhige Phasen zu belohnen, also dem Kind Zuwendung zu zeigen, sobald es sich beruhigt. Und dies natürlich auch zu kommunizieren, es dafür zu loben und sagen "jetzt spiele ich wieder gerne mit Dir, wenn Du wieder ruhig bist". Natürlich müssen betroffene Eltern die Schreianfälle weiter im Auge behalten, - aber vom Kind unbemerkt eben. Es gibt nichts unangenehmeres für ein Kind, als Langeweile. Es muss verketten, dass der Einsatz von ultimativen Methoden eine Sackgasse ist und ständiges Steigern der Schrei-Intensität nicht zum gewünschten Erfolg führt. Wo wird sonst die Grenze ultimativer Steigerungen sein?
Was kann man im Anfall tun?
Bei affektiven Schmerzreaktionen kann man versuchen, das Kind von seinem Schmerz abzulenken und wieder in Kontakt zu seiner Umgebung zu bringen, etwa durch lauten Zuruf, ungewohnte Geräusche, Betätscheln der Wangen, Bespritzen mit kaltem Wasser. Manche Eltern bestreiten, daß solche Manöver etwas ausrichten, zumal das Geschehen oft sehr rasch abläuft. Doch man kann es versuchen.
Will das Kind jedoch einen Anfall zum Durchsetzen seines Willens (bewußt oder automatisiert) einsetzen, sollte man dies nicht beachten und den Raum verlassen. Wichtig ist, gelassen zu bleiben und sich dem Kind völlig unbeeindruckt zu zeigen "Ja - Du darfst schreien! Das stärkt die Lunge! Aber bei mir erreichst Du damit nichts..." Bei eingetretener Bewußtlosigkeit sollte das Kind auf die Seite gelegt werden. Eine Beatmung ist unnötig und kann eher schaden als nutzen.
Wie sind die Aussichten auf eine Besserung?
Die Anfälle hören in einigen Monaten oder Jahren spontan auf, in der Regel spätestens im fünften Lebensjahr. Verkürzen kann man den Zeitraum erheblich, indem die emotionale Bindung zwischen Eltern und Kind wieder auf ein normales Mass herunter gefahren wird.
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