Sind 2-Jährige reif für den Kindergarten?von Gabriele Haug-Schnabel / Joachim Bensel am 21 November, 2002 um 22:40:47Die zurückgehenden Kinderzahlen erhöhen die Bereitschaft, über neue Betreuungsangebote für bislang nicht in Kindergärten vertretene Altersgruppen nachzudenken. So wird eine Öffnung des Kindergartens für Kinder über 6 Jahren, nachmittags nach der Schule und in den Ferien, erwogen. Aber auch die Öffnung nach unten, also die Aufnahme 2-Jähriger in bereits bestehende Kindergartengruppen, soll in die Tat umgesetzt oder - wo bereits geschehen - das Angebot noch nachträglich an die Bedürfnisse 2-Jähriger angepasst werden.2-Jährige sind nicht einfach nur ein Jahr jünger und unerfahrener als 3-Jährige. 2-Jährige sind nicht 3-Jährige, die noch in die Hose machen, beim Essen kleckern und nicht mit einer Schere umgehen können. Sie sind bezüglich ihres Entwicklungsstandes, ihrer Bedürfnisse, Risiken und Ansprüche noch ganz andere Kinder als 3-Jährige. Und wie sind 2-Jährige? Sie sind vor allem aktiv und kommunikationsfreudig.
Die motorische Entwicklung steigert die AutonomieDie hohe Aktivität rührt daher, dass Kindern dieses Alters Bewegung, von der Stelle zu kommen und zu einem Ziel zu gelangen, große Freude bereitet. Die motorische Entwicklung ist in der Regel so weit fortgeschritten, dass sich das Kind diese Wünsche erfüllen kann. Ein 2-jähriges Kind kann klettern und wippen, einen Hang hinuntergehen, Treppen rauf- und runtersteigen, es kann schon auf den Zehenspitzen laufen, sich drehen, es kann von kleinen Höhen herunterspringen und tanzen. Fahrzeuge jeder Art erfreuen, sind beliebt, so sehr, dass irgendwelche Gegenstände einfach zu Fahrzeugen umfunktioniert werden. Nicht nur die Grobmotorik macht Fortschritte, auch die Feinmotorik gewinnt an Bedeutung. Zweijährige können malen und bauen, vor allem Türme, die aufgebaut und dann umgestürzt werden.
Dieses entwicklungsgerechte Selbstständigwerden ist ein wichtiger Baustein für das Vertrauen des Kindes in sich selbst. Beweisen ihm doch all diese Dinge, dass es nun unabhängiger wird. Auffallend ist auch sein gesteigerter Wunsch, größeren Kindern und Erwachsenen bei ihren Tätigkeiten zu helfen.
Die heißeste Phase der SprachentwicklungDie Entwicklung von Sprachverständnis und Sprachproduktion ist im dritten Lebensjahr in vollem Gange. Trotz individueller Unterschiede im Entwicklungstempo können spätestens gegen Ende des dritten Lebensjahres die meisten Kinder gut sprechen. Verstanden zu werden ist dem Kind in diesem Alter sehr wichtig. Das heißt für die Erwachsenen, dass die Sprachförderung auch viel Zeit kostet und eine innere Bereitschaft zur Kommunikation mit dem Kind voraussetzt. Zweijährige, die selbst noch nicht allzu gut sprechen können, haben meist schon ein gutes Sprachverständnis, sie verstehen zum Beispiel den Unterschied von Ein- oder Mehrzahl einzelner Worte und wissen, dass aus kleinen Mädchen später Frauen und aus kleinen Jungen später Männer werden.
- Das Kind wird sich seiner bewusst
Einige 2-Jährige verwenden das Wort "ich" schon völlig richtig, andere wiederum benutzen das Wort "ich" noch überhaupt nicht. Das ist für dieses Alter typisch. Kinder müssen zum Erstaunen der Erwachsenen nämlich erst lernen, wer sie sind, sie müssen Ich-Bewusstsein entwickeln. Erst danach kann ein Kind von sich selbst als "ich" sprechen. Dass alle nicht "ich" heißen, sondern dass dieses Wort bedeutet, dass jeder von sich selbst spricht, ist ein Rätsel, das zuerst einmal gelöst werden muss. Bei den meisten Kindern zeigen sich in der Mitte des zweiten Lebensjahres Anzeichen für ein sich differenzierendes Selbst. Auch die Gewissensbildung beginnt zu diesem Zeitpunkt. Wir bemerken dies, wenn Kinder erste Verlegenheitsreaktionen zeigen, was beweist, dass sie sich nun ihres Tuns und dessen Wirkung bewusst geworden sind.
- Wille und Widerstand, Trotz und Grenzen
Das sich langsam stabilisierende Ich-Bewusstsein bringt viel Unabhängigkeitsbestreben mit sich. Jetzt will das Kind alles selbst machen. Jetzt beginnt die Trotzphase des Kindes. Es merkt, dass es jetzt schon viel kann, aber es merkt auch, dass es noch nicht alles kann und vor allen Dingen noch nicht perfekt. Es merkt auch, dass ihm nicht alles erlaubt ist, dass es Verbote gibt, dass mitunter sein Bewegungsspielraum eingeschränkt wird, dass es sich anpassen muss, dass es sich keineswegs immer durchsetzen kann. Das ist schwierig, gerade zu dem Zeitpunkt, an dem der eigene Wille voll ausgebildet ist, es durchaus etwas bewirken kann, sich nicht mehr ohnmächtig und hilflos vorkommt, sondern auch mal wirkungsvoll Sand ins Getriebe bringen kann. Darum versucht das Kind in dieser Zeit immer wieder, gegen Widerstände aggressiv anzugehen, um zu erfahren, wann sein Wille durchsetzbar ist und wann sich die Grenzen auftun. Diese Trotzphase ist wichtig und gewinnbringend, denn in ihr lernt das Kind seinen Verhaltensspielraum kennen, erfährt seinen Handlungsspielraum und gewinnt soziale Orientierung. Grenzerfahrungen ziehen einen Schlussstrich, sie zeigen ihm aber auch seine Möglichkeiten und geben ihm Sicherheit. Verständlich, dass nur das Setzen konsequenter aber auch einsichtiger Grenzen die wichtigen, klaren Verhältnisse schafft.
- Das Erwachen der Empathie
Wir wissen, dass Kleinstkinder durchaus in der Lage sind, an Emotionen anderer gefühlsmäßig teilzunehmen. Sehen sie ein unglückliches Gesicht, so versuchen sie mitunter, zu trösten und zu helfen, ohne dass man ihnen das beigebracht hätte. Dieses Mitempfinden beruht auf einer angeborenen Verknüpfung zwischen der Wahrnehmung des Gefühles der Traurigkeit bei einem anderen Menschen und der Anregung des entsprechenden Gefühles bei einem selbst. Mit etwa 18 Monaten werden Kinder noch feinfühliger. Jetzt reicht ihnen das Erzählen einer bestimmten Situation und sie können sich vorstellen, wie die Person aus der Geschichte sich gerade fühlt. Bevor dies klappt, ein Kind empathisch reagieren kann, sich also in andere hineinversetzen kann, muss ein Kind eine Vorstellung von sich selbst entwickelt haben. Und ganz wichtig: Es muss Einfühlsamkeit am eigenen Leib erleben und erlebt haben. Das heißt, dass jemand sich um es kümmert, wenn es ihm nicht gut geht, mit ihm lacht, wenn es sich freut, ihm hilft, wenn es Hilfe braucht. Gehören diese Erfahrungen zu seinem Leben, kann es selbst so reagieren.
Wie gruppenfähig und sozialkompetent sind Zweijährige?Zweijährige zeigen die ersten Anzeichen von Gruppenfähigkeit und Sozialkompetenz. Sie interessieren sich seit Babytagen und nun immer mehr für andere Kinder, dafür, was diese tun und wie sie in verschiedenen Situationen reagieren. Sie wollen sie kennen lernen, regelrecht erkunden wie einen Spielgegenstand. Es gibt gegenseitige Sympathie und auch Freundschaften unter Zweijährigen. Oft kann man feststellen, dass das eine oder andere Kind attraktiver für ein beobachtendes zweijähriges zu sein scheint, weil dessen Aktionen offensichtlich spannender sind und deshalb auch dessen Nähe eher gesucht wird. Während des dritten Lebensjahres kann man immer deutlicher sehen, dass die Aufmerksamkeit für einander länger anhält und die Kinder sich gegenseitig in ihren Bewegungen und sogar vereinzelt in ihren sozialen Verhaltensweisen nachahmen.
Doch von feinfühligem Umgang miteinander und Kooperation kann noch nicht die Rede sein. Die eigenen Wünsche, Angst, Wut und Freude sind so "alles bestimmend, dass ohne "erwachsene" Hilfe noch keine Verhaltensabstimmung auf die momentane Befindlichkeit eines anderen Kindes möglich ist. Warum nicht schlagen, beißen oder an den Haaren ziehen, wenn ich doch stärker und geschickter bin? Warum sollte ich am Ausgang auf die anderen warten, wenn ich doch schon Jacke, Mütze und Schuhe anhabe? Diese Größe, Respekt, Teilen, Fairness und Regeln lernt man erst mit den Jahren in einem von Erwachsenen behutsam geführten Miteinander, das Schutz und Anregung gibt.
Gemeinsames Spiel ist unter Zweijährigen noch recht selten; aufeinander abgestimmte Spielepisoden kommen nur vereinzelt vor und dauern wenige Minuten. In den ersten drei Jahren dominieren das Allein- und das Parallelspiel. Beim Parallelspiel machen Kinder typischerweise zwar das Gleiche, oft auch mit den gleichen Gegenständen, sich gegenseitig beobachtend, aber eben noch nebeneinander her, jedes Kind für sich ohne gegenseitige Abstimmung. Erst Drei- bis Vierjährige kooperieren, um ein Ziel zu erreichen, und übernehmen dann auch verschiedene Rollen im Spielverlauf, was auf gemeinsame Vorstellungen schließen lässt.
Die elementare Bedeutung von BindungspartnernDurch eine einfühlsame und beständige Versorgung lernt der Säugling, dass seine Äußerungen des Wohlbefindens und ebenso seine Unbehagensäußerungen innerhalb kürzester Zeit auf vorhersagbare Weise von ihm zugewandten Menschen verstanden und befriedigt werden können. Die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern oder Personen, die es ständig betreuen, wird Bindung ("attachment") genannt. Wichtig sind Zuverlässigkeit, Einfühlsamkeit und Kontinuität bei liebevoller Pflege. Zwischen Bezugspersonen und dem Kind muss die Gelegenheit zu regelmäßigen Zwiesprachen gegeben sein. Denn nur bei Kontinuität in der erzieherischen Betreuung entsteht eine sichere Bindung.
Es gibt eine biologisch begründete Bereitschaft und Notwendigkeit zur Bindung, allerdings ist die individuelle Verwirklichung von Bindung eines Kindes an seine Bezugspersonen sehr unterschiedlich. Auch wenn alle Kleinstkinder Bindungsverhaltensweisen (wie weinen, nachfolgen, anklammern, rufen) bei Gefahr und Angst zeigen, kann die einzelne Bindung zu Mutter, Vater oder einer anderen vertrauten Person von sehr unterschiedlicher Qualität sein. Die erlebten emotionalen Erfahrungen mit den Bindungspersonen werden als inneres Arbeitsmodell gespeichert. Dieses Modell kennzeichnet die Erwartungshaltung, mit der das Kleinstkind in seinem weiteren Lebenslauf auf andere Menschen zugehen wird. Es steuert die Fähigkeit zur Autonomie und Selbstregulierung.
Sicher gebundene Kinder sind kooperationsbereiter, frustrationstoleranter, besitzen bessere Problemlösestrategien, sind Fremden gegenüber freundlicher und aufgeschlossener, spielen länger konzentriert, geraten seltener über Spielsachen oder soziale Angelegenheiten in Streit, lösen ihre Konflikte selbstständiger und nachhaltiger und sind häufiger Initiatoren von Gruppenspielen.
Dagegen ist eine unsichere Bindung ein Risikofaktor für das Kind. Ein relativ früh erlebter Verlust oder die psychische Unzugänglichkeit der Bezugspersonen kann zu deutlichen Beeinträchtigungen in der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes führen, was im späteren Lebenslauf vor allem in Belastungssituationen deutlich wird.
Voraussetzungen für eine Bindung außer HausAb dem sechsten Lebensmonat bis ins dritte Lebensjahr hinein bindet sich ein Kind an einige wenige Bezugspersonen. Sie in seiner Nähe zu wissen, ist besonders wichtig, wenn es Neues zu beobachten und zu tun gibt, wenn Unsicherheit und Angst gerade das Stimmungsbild dominieren. Typisch für Zweijährige ist, dass sie in bestimmten Zeitintervallen zur Bezugsperson zurückkehren, um sich ihrer Anwesenheit zu versichern, damit sie weiterspielen können.
Die Situation der außerfamiliären Fremdbetreuung von Kindern unter drei Jahren muss aus der Sicht der Bindungstheorie als mögliches Risiko gesehen werden, weil das Kleinstkind eine Trennung von seiner Sicherheitsbasis und von seinen Bindungspersonen als stressvoll erlebt, ohne dass es verstehen kann, warum ihm diese Trennung zugemutet wird. Kommt ein Zweijähriges in Fremdbetreuung, so muss seine Erzieherin zu seiner neuen Bezugsperson in dieser Umgebung werden. Hierzu braucht es die Hilfe der bereits vorhandenen Sicherheitsbasis. Beim Übergang von der reinen Familien- zur zusätzlichen Fremdbetreuung muss das Kind von einer seiner vertrauten Bezugspersonen begleitet und parallel von "seiner" Erzieherin eingewöhnt werden.
Zu frühe, zu wenig vorbereitete, vom Kind ungewollte, von Erwachsenenseite jedoch geforderte Trennungen führen nicht zu einer gesteigerten Autonomie, sondern nur zu einem - auch hormonell messbaren - Stressanstieg. Bestenfalls zeigen die Kinder keinen Protest mehr beim Abschied, was aber keineswegs bedeutet, dass sie innerlich nicht sehr erregt sein können. Wichtig bei einer Trennung ist nicht nur, wer geht, sondern auch, wer bei dem Kind bleibt. Gelingt es der Erzieherin in einer durch alte und neue Bezugspersonen gemeinsam abgesicherten Eingewöhnung eine Bindung zum Kind aufzubauen, dann kann die Trennung von der Hauptperson akzeptiert werden, bald ohne Stress und ohne Trauer. In der Eingewöhnungsphase dienen kleine Trennungen von der Mutter zum Austesten, ob der Trennungsschmerz bewältigbar ist und ob die neue Bezugsperson in der Lage ist, als vorübergehende Sicherheitsbasis zu fungieren. Funktioniert das, kann man die stundenweisen Trennungen zu halb- oder sogar ganztägigen Trennungsphasen verschmelzen lassen.
Bevorzugte Interaktionspartner der KleinstkinderDas gruppenfähigste und sozialkompetenteste Gruppenmitglied als Spielpartner zu wählen, ist eine günstige Strategie der Kleinsten. Vergleicht man die Zeit, die Zweijährige zusammen mit Gleichaltrigen oder etwas älteren Kindern spielen, mit der mit erwachsenen Bezugspersonen verbrachten Spielzeit, zeigt sich eine deutliche Präferenz des erwachsenen Spielpartners. Und das bis zum Ende des dritten Lebensjahres. Kontakte mit Gleichaltrigen nehmen mit steigendem Alter und zunehmender Vertrautheit mit den Spielkameraden an zeitlichem Ausmaß, an der Dauer der einzelnen Spielszenen und an Komplexität zu, sind jedoch auch gegen Ende des dritten Lebensjahres immer noch von untergeordneter Bedeutung.
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